Aus aktuellem Anlass ein grundsätzliches Problem:
Haft ist die Strafe für manche rechtskräftig verurteilte Straftäter.
Untersuchungshaft ist keine Strafe, sondern soll die absolute Ausnahme sein und dient laut § 173 der Strafprozessordnung (StPO) nur
- Verhinderung von drohenden Straftaten (“Tatbegehungsgefahr”)
- Verhinderung der Flucht des Verdächtigen (“Fluchtgefahr”)
- Verhinderung der Erschwerung der Wahrheitsfindung (“Verdunkelungsgefahr”)
In § 173 StPO steht das – man nennt es die 3 Untersuchungshaftgründe – natürlich ausführlicher, aber verständliche wird es für den Laien dadurch nicht. Ach ja, der Laie. Also der eigentlich von solchen Gesetzen Betroffene. Der war ja auch noch da. Wie kann der planen, wenn ein Strafverfahren gegen ihn geführt wird? Kann er sein Leben am Gesetz ausrichten?
Zum Beispiel, wenn lange zurückliegende, gegen Minderjährige gerichtete Sexualstraftaten vorgeworfen werden. Und gar nicht so lange zurückliegende Taten gegen einen Volljährigen. Beim Volljährigen gibt es aber SMS-Verkehr, dass er gerne zum angeblichen Täter auf Besuch kam. In so einer Situation gibt es natürlich ein aufwendiges Ermittlungsverfahren und es ist auch mit einem aufwendigen Hauptverfahren zu rechnen, aber welcher Untersuchungshaftgrund könnte vorliegen? Für Nr. 2 und 3 (Flucht- und Verdunkelungsgefahr) bräucht es konkrete Anhaltspunkte, also eine One-Way-Flugticketbuchung nach Südamerika oder Whats-App-Nachrichten an Zeugen wie “Sag der Polizei nicht, dass ich dabei war!” Letzteres ist gar nicht so selten, fliegt aber halt manchmal auf.
Aber der Haftgrund der Tatbegehungsgefahr, der braucht keine zusätzlichen Verdachtsmomente. Das geht relativ einfach: Herr X wird beschuldigt, vergewaltigt / geschlagen / gedroht / gezündelt / gestohlen / geraubt / betrogen / und-so-weiter-und-so-fort zu haben. Und da die Anschuldigung so “glaubwürdig” ist, ist es natürlich auch wahrscheinlich, dass Herr X so etwas auch in Zukunft tun wird. Also muss er wegen Tatbegehungsgefahr in Untersuchungshaft. “Naja”, werden Sie sagen, “wenn ich im Supermarkt beim Stehlen erwischt werde oder beim Veruntreuen in der Firma, dann werd ich ja nichts mehr machen und stehe eh unter Beobachtung, da muss man mich nicht gleich einsperren”.
Jetzt zum konkreten Fall: Der Tatvorwurf lautet, der Beschuldigte habe zuletzt im August 2020 einen 21-jährigen, der nicht nur laut Chatverlauf immer wieder zu ihm kommen wollte, sondern der auch deutlich kräftiger als der Beschuldigte gebaut ist, vergewaltigt. Man mag davon halten was man will, aber als Laie würde man wohl annehmen, dass der Beschuldigte entweder sofort oder gar nicht wegen Tatbegehungsgefahr einsperrt werden muss. Und wenn Tatbegehungsgefahr vorliegt, wie lange nach dem letzten Tatvorwurf liegt sie vor? 1 Woche lang? 1 Monat lang? 1 Jahr lang? 5 Jahre lang? 10 Jahre lang? Wie lange darf eine (angebliche!!) Straftat vergangen sein, dass sich der Beschuldigte SICHER sein kann, dass er nicht wegen Tatbegehungsgefahr und ohne rechtskräftige Verurteilung eingesperrt wird? Wer die Antwort des Rechtsstaats auf diese Frage im Vorhinein kennt, bekommt ein Jobangebot von jedem Strafverteidiger.
Wie die nachstehenden Posts zu so einem aktuellen Fall zeigen, macht sich nicht jeder Gedanken über die Frage,
- ob es einen Unterschied zwischen Anschuldigung und rechtskräftiger Verurteilung gibt und
- ob nicht nur (angebliche!) Kaugummidiebe sondern auch (angebliche!) Vergewaltiger einen Verteidiger haben sollen:
Mancher ist überhaupt gegen so aufwändige Verfahren:
Es darf natürlich jeder gerne in ein Land ziehen, in dem Strafverteidiger nur bei bestimmten Delikten vertreten dürfen. Also wegen Parkstrafen, Diebstählen oder Brandstiftung. Und wo es sich Anwälte dreimal überlegen, ob sie die Verteidigung übernehmen bei
- politischen Delikten (Österreich: NS-Wiederbetätigung; China: Alles was der Partei nicht passt; Weißrussland: Alles was dem Präsidenten nicht passt)
- Sexualdelikten (Österrich: siehe oben; Uganda: einvernehmliche homosexuelle Handlungen)
- Tierquälerei (Österreich: Hunde und Katzen, nicht aber Ratten und Schlangen; Indien: Kühe; China: Hunde egal)
Der Herr, der meinen Mandanten “an die Wand stellen” will, hat vielleicht schon einmal auch Dinge über die chinesische Staatsführung gesagt, für die er in China ganz ganz dringend einen Verteidiger brauchen würde, wenn er die Sonne jemals wieder sehen will.